Volle Fahrt voraus

Kein Spielzimmer, sondern Ausbildungsstätte: Im Eisenbahnbetriebslabor der ETH Zürich lernen nicht nur Studierende ihr Handwerk, sondern auch Lernende der SBB.

?Es freut mich, dass ihr alle p¨¹nktlich seid ¨C trotz Schneetreiben?, begr¨¹sst Michael F¨¹rer seine Klasse. Er muss es ja wissen. Der Zugverkehrsleiter hat in seinem Berufsalltag auch schon erfahren, wie das Wetter den ?ffentlichen Verkehr lahmlegen kann. Er arbeitet im Stellwerk Z¨¹rich Oerlikon und dirigiert dort drei Tage die Woche die Z¨¹ge bis nach Effretikon oder Niederglatt. Die restliche Zeit bildet er angehende Zugverkehrsleitende aus. Heute ist er mit seiner Klasse an der ETH Z¨¹rich auf dem Ó¢»ÊÓéÀÖ H?nggerberg. Im Geb?ude, in dem auch das Institut f¨¹r Verkehrsplanung und Transportsysteme untergebracht ist, befindet sich im Keller das Eisenbahnbetriebslabor. Ein Raum ohne Tageslicht, der die Augen eines jeden B?hnlers dennoch zum Leuchten bringt.

Vergr?sserte Ansicht: Eisenbahnbetriebslabor der ETH Zürich
Die Idylle tr¨¹gt: Der Ausbildungstag an der ETH Z¨¹rich verlangt den Lernenden viel ab. (Bild: Oliver Bartenschlager)

Mehr als ein halber Kilometer Gleise schl?ngelt sich ¨¹ber die Modelleisenbahnanlage. Platz genug f¨¹r Manuela Marty, Jonas B¨¹hler und die anderen acht Lernenden, sich auszutoben und Fallbeispiele aus ihrem Berufsalltag zu ¨¹ben und durchzuspielen. Das Ziel des heutigen Besuchs an der ETH ist, das Hintergrundwissen zu festigen und den Normalbetrieb zu ¨¹ben. St?rungen kommen sp?ter. ?Das w¨¹rde ¨¹ber das Ziel hinausschiessen?, sagt Michael F¨¹rer. Er ist mit seiner Klasse heute erst das vierte Mal im Eisenbahnbetriebslabor. Die Anlage geh?rt der ETH Z¨¹rich, doch die Verantwortlichkeiten f¨¹r den Unterhalt teilt sich die Hochschule mit der SBB und mit Siemens.

Vergr?sserte Ansicht: Manuela Marty und Jonas Bühler im Eisenbahnbetriebslabor
Berufswunsch Zugverkehrsleiter: Manuela Marty und Jonas B¨¹hler sind fasziniert von der Bahn. (Bild: Oliver Bartenschlager)
Vergr?sserte Ansicht: Manuela Marty im Eisenbahnbetriebslabor
Die Fahrdienstvorschriften m¨¹ssen sitzen. (Bild: Oliver Bartenschlager)

Manuela und Jonas kommen gerne ins Eisenbahnbetriebslabor. ?In der Schule ist es leider recht trocken?, meint Manuela. Und Jonas erg?nzt: ?Im Berufsalltag d¨¹rfen wir nat¨¹rlich noch nichts alleine machen.? Hier aber d¨¹rfen sie eigenh?ndig hebeln, schalten, klicken ¨C und dabei Fehler machen. ?Hier m¨¹ssen die Fehler passieren, die bei der Arbeit nicht passieren d¨¹rfen. So ist der Lerneffekt am Gr?ssten?, sagt ihr Lehrer Michael F¨¹rer. ?Erst wenn sie immer wieder dieselben Fehler machen w¨¹rden, w?re ich unzufrieden.? Er ist insgesamt sehr nachsichtig mit seinen Sch¨¹lern. Sie sind ja alle noch blutige Anf?nger. Derzeit im dritten Lehrjahr als Kauffrau oder Kaufmann ?ffentlicher Verkehr mit Schwerpunkt Bahn, machen sie seit letztem Sommer erste Ber¨¹hrungen mit dem sp?teren Beruf des Zugverkehrsleiters. Durch den gew?hlten Schwerpunkt im dritten und letzten KV-Lehrjahr wird sich die Zusatzausbildung zum Zugverkehrsleiter von acht auf sechs Monate reduzieren ¨C wenn sie die ¨¹berhaupt in Angriff nehmen wollen. Manuela und Jonas mussten nicht lange ¨¹berlegen. Die beiden sind sich jetzt schon sicher, dass sie nach Abschluss ihrer Lehre das halbe Jahr noch anh?ngen. ?Mir gef?llt das Technische am Beruf?, sagt Manuela und dreht den Schalter, um eine Weiche zu stellen. ?Den ganzen Tag vor dem Bildschirm sitzen und Briefe schreiben, das liegt mir nicht.?

Kein Computerspiel

Vergr?sserte Ansicht: Michael Fürer mit Lernenden im Eisenbahnbetriebslabor
Michael F¨¹rer ist Lehrer und Eisenbahner mit Leidenschaft. (Bild: Oliver Bartenschlager)

Manuela arbeitet am Bahnhof Landquart bei der Rh?tischen Bahn, Jonas in der Betriebszentrale Ost der SBB, die sich am Flughafen Z¨¹rich befindet. Doch heute f¨¹r die Fahrplansimulation sind die beiden in Zetthausen stationiert, jener fiktive Bahnhof der Modellanlage, der das zweit?lteste Stellwerk hat ¨C eines aus den 1940er-Jahren. Die Bedienung einer solchen Anlage wird sp?ter nicht Teil ihres Alltags sein, obschon es in der Schweiz noch immer vereinzelt Bahnh?fe mit solchen elektromechanischen Stellwerken gibt. Der Grossteil der Strecken wird heute hochmodern gesteuert, alles elektronisch vom Computer aus. Musste fr¨¹her der Bahnbetriebsdisponent mit aller Kraft einen grossen Hebel in Bewegung setzen, um ¨¹ber Seilz¨¹ge draussen eine Weiche zu stellen, werden heute Weichen, Barrieren und Signale mit ein paar Mausklicks gelenkt. Deshalb geht es bei den Ausbildungstagen an der ETH auch immer darum, dass die Auszubildenden ein Gef¨¹hl daf¨¹r entwickeln, was draussen passiert, wenn sie am Computer hantieren. ?Jeder rote Strich auf dem Bildschirm ist ein Zug mit Passagieren?, betont F¨¹rer. ?Das ist kein Computerspiel.? Anhand der Modellanlage sehen die Lernenden ganz direkt, was sie bewirken. Nicht nur die Antriebe t?nen beim Weichenstellen, auch die Relais-Schaltungen im Nebenraum klicken und klacken. Die Modellanlage f?rdert das Bewusstsein f¨¹r den eigenen Aktionsradius.

Jonas, der in der Betriebszentrale Ost am Flughafen arbeitet, sieht dort im Zehnminutentakt Flugzeuge starten, nicht aber Z¨¹ge ein- und ausfahren. Selbst der Hauptbahnhof Z¨¹rich wird vom Flughafen aus gesteuert. In einigen Jahren schon wird es nur noch vier SBB-Betriebszentralen geben: Neben jener am Flughafen noch je eine in Lausanne, Olten und Pollegio. Diese Entwicklung d¨¹rfte manchem ehemaligen Bahnhofvorstand, der einst auf dem Perron mit der Kelle die Z¨¹ge dirigierte, das Herz brechen.

Doch der Modellbahnhof Zetthausen ist bedient ¨C von Manuela und Jonas. Eigentlich ist schon bald Mittag an diesem Ausbildungstag, doch F¨¹rer hat die grossen Bildschirmuhren, die un¨¹bersehbar ¨¹berall an der Wand h?ngen, auf 5.55 Uhr gestellt. In f¨¹nf Minuten beginnt die einst¨¹ndige Fahrplansimulation. F¨¹rer k?nnte die Uhren auch schneller laufen lassen. Doch das ist nur im Training f¨¹r Fortgeschrittene sinnvoll. F¨¹r die Lernenden ist das normale Tempo schon schnell genug. In einer Stunde werden die sechs Personen- und zwei G¨¹terz¨¹ge gut 20 Minuten Versp?tung haben ¨C zumindest jene, die ¨¹berhaupt noch fahren.

Doch F¨¹rer ist sehr zufrieden und vor allem in seinem Element. Jedes Missgeschick, jeden falschen Handgriff sieht er als Chance f¨¹r die Lernenden, wieder einen wichtigen Aspekt zu lernen ¨C und nicht mehr zu vergessen. Deshalb verzichtet er im Anschluss auf eine detaillierte Auswertrunde, bei der jeder Handgriff nachtr?glich analysiert wird. Viel lieber interveniert er im Moment und l?sst Manuela und Jonas viel Zeit, die n?chsten Schritte zu ¨¹berlegen. Dass dabei die P¨¹nktlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibt, ist f¨¹r ihn nebens?chlich. F¨¹rer schafft den bemerkenswerten Spagat zwischen seinen beiden Funktionen: heute der nachsichtige und geduldige Lehrer, morgen der gewissenhafte und gesch?ftige Zugverkehrsleiter.

Gef¨¹hl f¨¹r Disposition

Manuela und Jonas sind gefordert. Sie werden von F¨¹rer angefunkt. Auch das ein wichtiger Teil ihres Berufs, auch in Zeiten von Smartphones. Ein Zug endet ausnahmsweise in Zetthausen. Auf welchem der drei Gleise soll er abgestellt werden? Diese Situation haben die Auszubildenden am Vormittag ge¨¹bt; sie war eine der vier Fallstudien. Michael F¨¹rer und die anderen beiden Ausbildnerinnen haben in Kleingruppen verschiedene Fragestellungen durchgespielt. Zetthausen ist ein besonders kniffliger Fall: Weil der Bahnhof keine Unterf¨¹hrung hat, gibt es keine ideale L?sung f¨¹r die Aufgabenstellung. Denn wo immer ein Zug steht, muss damit gerechnet werden, dass Passagiere einsteigen wollen. Ohne Unterf¨¹hrung kann es immer zu gef?hrlichen Situationen kommen, wenn ein Zug auf einem Gleis abgestellt werden muss und auf den anderen Gleisen der Normalbetrieb weitergeht. ?Die Modellanlage vermittelt ihnen das Gef¨¹hl f¨¹r die Disposition?, sagt F¨¹rer. Deshalb sind die Fig¨¹rchen in der Modelllandschaft nicht einfach eine nette Dekoration f¨¹r Liebhaber, sondern machen die Situation plastisch. Schliesslich dreht sich alles um die Sicherheit von Passagieren und Personal. Sich dieser Verantwortung bewusst zu werden, geh?rt auch zur Ausbildung. ?Der Beruf des Zugverkehrsleiters ist ein Nullfehlerjob?, sagt F¨¹rer.

Ein dicker Ordner mit allen Fahrdienstvorschriften sorgt daf¨¹r, dass auf den Schienen alles reibungslos abl?uft. Die Ordner der Lernenden sehen noch ziemlich druckfrisch aus ¨C im Gegensatz zum Exemplar ihres Lehrers. Noch suchen sie zaghaft nach Regeln und Symbolen. Der Umgang mit dem Register will ge¨¹bt sein und deshalb kommt F¨¹rer immer wieder der Satz ¨¹ber die Lippen: ?Schaut in eurem Ordner nach.? Vorkauen bringt seine Spr?sslinge nicht weiter. Doch auch F¨¹rer selber muss dranbleiben und die Vorschriften kennen. ?Die Lernenden spornen mich zus?tzlich an, ¨¤ jour zu bleiben?, sagt er. ?Lernende ausbilden h?lt jung.?

Die erste Simulationsrunde ist vorbei. F¨¹rer will wissen, wie es seinen Sch¨¹lern ergangen ist. Es stellt sich schnell heraus, dass es zu Verwirrungen kam, nicht weil zu wenig, sondern weil zu viel kommuniziert wurde. ?Ihr m¨¹sst nur das wirklich Wichtige kommunizieren?, fasst F¨¹rer zusammen. Was interessiert einen Bauarbeiter, was einen Lokomotivf¨¹hrer? Das sind Fragen, die sich ein Zugsverkehrsleiter stellen muss.

Auch wenn bei der Simulation einiges schiefgelaufen ist, F¨¹rer findet bei der Nachbesprechung viele lobende Worte. Fehler bezeichnet er als ?sch?ne Situationen, bei denen ihr viel lernen konntet?. Er weiss seine Lernenden zu motivieren. Und voller Tatendrang nehmen sie die n?chste Simulation in Angriff.

Eisenbahnbetriebslabor

www.ivt.ethz.ch/oev/eisenbahn

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